Althippie

Das erste Mal sah ich ihn auf dem alljährlich im Ort stattfindenden Liederfestival. Sofort dachte ich: „Eine Mischung aus Rocker und Althippie.“ Jeanshose und Weste, Kette am Gürtel und ein Gesicht, das mich an den Hells Angel aus dem Film „Gimmie shelter“ von den Stones erinnerte, der oft in Nahaufnahme gezeigt wurde. Dessen Lächeln schien aus einer Welt zu kommen, die nichts mit der zu tun hatte, in der gerade die Musik spielte. Genauso grinste der Althippie und entblößte dabei eine Reihe reparaturbedürftiger Zähne. „Übrig geblieben“, fiel mir ein, „und irgendwie gefährlich.“
Das war er aber keineswegs, er trank Mineralwasser und stellte sich zum Smalltalk genauso zu den alten Leuten wie zum Pfarrer. Trotzdem wurde er bei mir das Etikett des Althippies nicht los. Es ergab sich jedoch nie die Gelegenheit, ins Gespräch zu kommen. Ich beschränkte mich auf die Beobachtung und immer fiel mir dabei Woodstock oder Altamont ein.
Nach zwei Jahren haben wir uns zugenickt, wenn wir zufällig zur gleichen Zeit an derselben Badestelle unten am See waren. Eine Geste des Wiedererkennens: Man gehörte hier irgendwie dazu und war kein Tourist. Im Winter trafen wir uns nie, da schien er woanders zu sein. Vielleicht unterwegs mit einem Pick-up in Kalifornien.
Im Sommer vor drei Jahren sah ich ihn mit seiner Frau auf dem Marktplatz und hätte ihn fast nicht erkannt. Er hatte sich eine Glatze schneiden lassen, trug ein ausgeblichenes Flanellhemd und eine schlabberige Cordhose. Darüber eine alte Trekking-Weste. Um seinen Hals hing eine Uraltkamera. Neben ihm lief ein kleines Mädchen, das ab und zu nach seiner Hand griff und ihn mit „Opa“ anredete. Mit einem Schlag zersprang meine Woodstock-Vision von ihm in tausend Stücke und machte einer neuen Platz, in der die Revolution vorbei und die Zeit der Opas angebrochen war. Jetzt schien er Fotos von dieser kleinen, beschaulichen Stadt zu machen.
Nun sah ich ihn nur noch im Ort mit dieser Kamera herumspazieren und fragte mich, ob es für dieses Modell überhaupt noch Filme gab.
Gestern verließ er mit seiner Frau das Café, in das ich gerade einkehren wollte. In der Hand eine Eiswaffel, die Kamera um den Hals, und sein Outfit hatte er um eine alte Schirmmütze erweitert. Er lief nach vorne gebeugt und es schien, als wollten die Beine bei jedem Schritt ihren Dienst versagen. Das Hemd wurde von einem kleinen, aber sichtbaren Bauch ausgefüllt, der nicht so recht zum übrigen Körper passte.
In den letzten drei Jahren hatte ihn das Alter umarmt und wollte nicht mehr loslassen. Nur noch leise hörte ich bei seinem Anblick „We are stardust, we are golden“. Woodstock war immer mehr im Nebel der Jahre verschwunden. Nur wenn er gelegentlich den Mund zu einem Lächeln verzog, sah ich den Rocker wieder, hörte Jaggers Stimme, die Zeilenfetzen „Love, sister, it's just a kiss away“ und durch meine Nase zog die Erinnerung an Marihuanaschwaden und eine andere Zeit. Danach übernahm die Melancholie, bis alles wieder beim Alten war. „Ist eben so“, lasse ich den Althippie in Gedanken sagen, und das wird es wohl sein.
Lindow, 19.5.

Aus „Tageswörter“, ©2024, Sisyphus-Verlag, Klagenfurt


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