LANGER  HERBST

Warten bis …
die Sonne hinter dem Waldrand verschwindet?
Der Marktplatz von den wenigen Tagestouristen
verlassen wurde, die Ende Oktober noch einmal
um den See laufen, danach im Café sitzen
und sich bis zum nächsten Jahr verabschieden?
Warten auf die letzten Nachrichten,
den Klatsch aus dem Dorf
und die ersten Prognosen,
wer den Winter nicht überleben wird?

Nur zögernd lösen sich dieses Jahr
die Blätter von den Bäumen.
Die Sonne bleibt länger,
die Kraniche verzögern ihre Abreise,
das Thermometer auf dem Fensterbrett
will den zweistelligen Bereich nicht verlassen.
Fliegen rutschen über das warme Fensterglas,
sogar Marienkäfer krabbeln noch auf dem Dach.
Die Altersschwäche macht sie langsam, doch
die Kälte, die sie töten wird, stellt sich nicht ein.
Die Stürme warten draußen über dem Meer,
bis sie ihre Wolkenherden endlich
über das Land treiben können.

Warten bis …
ein kurzer Herbst mit furiosem Farbenspiel
die Felder räumt und einem grauen Eis
die Herrschaft überlässt?
Letzte Küsse am Ufer des Sees, die,
von sommerlicher Hitze versüßt, versprechen,
im Winter warm zu halten
und die Liebe zu schützen,
um sie in einen berauschenden Frühling zu führen?

Warten bis …
alle Märchen vom Herbst von Poeten erzählt und
und von Malern gemalt sind?
Der Herbst mit seinen vielen Geheimnissen,
die der Winter fest unter Eis und Schnee begräbt.

Warten bis …
ein Windhauch ein einzelnes Blatt
auf den Boden schickt,
den Vorboten der großen Kälte?
Ein Blatt,
das einsam für uns alle stirbt,
am Ende dieses langen Herbstes?

©2025, Jörg Reinhardt

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